Thema "Canon" und die Nähe zum Original
Was eigentlich ist "Canon"?
Ursprünglich wird damit das "Kirchenrecht" bezeichnet. Das Wort selbst leitet sich vom griechischen "κανών" (Regel, Richtschnur (1)) ab, im übertragenen Sinne bedeutet es auch "Maßstab". In den diversen Fandoms ist damit das "Original" oder die Nähe zum Original gemeint.
In Bezug auf das Thema "Captain Future" ist die Frage nach dem "Canon" nicht so ganz einfach zu beantworten, weil - zumindest in Europa - neben der relativ wenig bekannten Originalquelle (Hamiltons Romane und Kurzgeschichten) auch noch ein relativ bekanntes und sehr erfolgreiches Derivat (die japanische Zeichentrickserie) existiert, das aufgrund seiner weiten Verbreitung und seines Einflusses nicht einfach ignoriert werden kann.
Bei Sci-Fi-Serien wie z. B. "Star Trek" war i. d. R. die Fernsehserie zuerst vorhanden, die Bücher (teilweise auf Basis der Drehbücher) folgten schließlich nach... Hier ist es jedoch genau andersherum.
Nun, dass die Originaltexte Edmond Hamiltons als Canon gelten, steht wohl außer Frage. Wie aber stuft man das Derivat, also den Animé, ein, der in Europa den "Erstkontakt" zu CF darstellte und damit ein Fandom überhaupt erst generierte? Und wie nah ist der Animé eigentlich am Original?
Die Zeichentrickserie und Befunde des Vergleichs mit den Originalromanen
Die Zeichentrickserie wurde, so ist zu lesen, "nach" Geschichten eines gewissen "Edmund Hamilton" kreiert. Diese Wortwahl impliziert eine gewisse Freiheit bei der Interpretation der Hamilton'schen Romane, was wiederum auf Abweichungen schließen lässt. Tatsächlich lassen sich solche auch finden – in der Sektion „Vergleich Serie/Bücher“ (hier klicken) haben wir uns eingehend damit befasst.
Was gemeinhin von den Zuschauern vor allem der deutschen gekürzten Fassung als „Abweichung“ von z. B. den Namen, des Settings, des Designs oder der Reihenfolge wahrgenommen wird, bleibt allerdings ohne Auswirkungen, da es nicht in die eigentliche Handlung eingreift und somit vernachlässigbar ist. Beim Vergleichen der japanischen Originalfolgen mit den Hamilton’schen Romanen wird man stattdessen nämlich immer wieder feststellen, dass sich die Handlungsstränge der einzelnen TV-Episoden, sprich, deren Inhalte, erstaunlich eng an die Vorgaben der Bücher halten: Dieselben Problemstellungen, dieselben Ereignisse, dieselben Lösungen, dieselben Schritte, die zu den Lösungen führen, und selbstverständlich auch dieselben Handlungsnebenstränge (jedenfalls die meisten davon) finden sich sowohl in der Vorlage als auch der Fernsehserie. Mit anderen Worten: Das, worauf es ankommt, nämlich die Inhalte, wurde von Toei erstaunlich nah am Original umgesetzt. Zu diesem Ergebnis kommt übrigens auch das Standardwerk „Animé Encyclopedia“ in seinem Text zur Zeichentrickserie (2).
Die Behauptung, der Animé würde nur „frei auf den Hamilton'schen Erzählungen basieren“, wie man z. B. bei der deutschen Wikipedia nachlesen kann, ist somit nicht haltbar und deutet möglicherweise auf Unkenntnis der japanischen Fassung: Ja, es gibt durchaus die eine oder andere Abweichung in Form von Kürzungen, Add-Ons, Switches oder Swaps (die Details im Einzelnen lassen sich hier nachlesen), doch diese stören oder verfälschen die originalen Handlungsabläufe und Inhalte nicht. Eine strikte „1:1-Umsetzung“ stellt die Serie unter diesen Umständen natürlich nicht dar (welche Serie tut das schon?), aber immerhin eine „Beinahe-1:1-Umsetzung“.
Darüber hinaus weisen etliche Details, die man seitens Toei als Hommage an das Original eingeflochten hat, darauf hin, dass die entsprechenden Verantwortlichen sich intensiv mit der Romanvorlage auseinandergesetzt haben müssen. Die Bücher wurden anscheinend nicht nur gelesen, sondern auch verstanden... Man hat es also nicht einfach nur geschafft, die Inhalte der Erzählungen ansprechend zu bebildern und obendrein auch den „Spirit“, also das „Wesen“ der Texte Hamiltons, zu erfassen, sondern auch den in den Pulps immmer wieder durchscheinenden „sense of wonder“ einzufangen und all’ das in die Gegenwart zu transportieren: Das ist schon eine reife Leistung! Und verdammt nah am Original.
Fazit
In Bezug auf die Romanvorlage lässt sich die Zeichentrickserie aufgrund der erstaunlich nah am Original umgesetzten Handlungsstränge in jedem Falle als sehr "canon-nah" einstufen. Rein formal betrachtet, handelt es sich bei ihr zwar immer noch um ein Derivat, jedoch um eines, das eben nun mal sehr eng an das Original angelehnt ist. Ihr Einfluss lässt sich nicht wegdiskutieren, denn die Serie hat in der Rezeption des Themas "Captain Future" im Publikum nachhaltige Spuren hinterlassen: Man kann getrost davon ausgehen, dass in Europa und all' den anderen Ländern, in denen CF erfolgreich war, ohne den Animé vermutlich überhaupt gar kein Fandom entstanden wäre, denn die Hamilton'schen Romane waren zu dieser Zeit eher unbekannt.
Das führt zu der paradoxen Situation, dass man im Captain-Future-Fandom quasi vom Vorhandensein zweier Canons sprechen kann, wobei der eine zwar hierarchisch vom anderen abhängt, beide jedoch nebeneinander existieren und untereinander etliche Überschneidungen aufweisen: Der Hamilton'sche Canon und der davon abgeleitete Toei-Canon (3).
An dieser Duplizität scheiden sich denn auch die Geister: Während die durchschnittlichen (und erst recht die Vollblut-) Fans die Hamilton'schen Originalgeschichten oder zumindest Teile davon kennen, sind diese all' denjenigen, die die Serie "Captain Future" als Kind zwar gemocht, diese Vorliebe im Laufe der Zeit aber nicht weiter verfolgt haben, meist unbekannt.
Fußnoten / Quellen
Übersetzung: Online-Wörterbuch Altgriechisch/Deutsch
"The Anime Encyclopedia", Revised & Expanded Edition: A Guide to Japanese Animation Since 1917 (J. Clements, H. McCarthy), 2006, ISBN: 978-1933330105, Seite 86
Wie stark dieser wirkt, lässt sich allein schon daran ablesen, dass die ursprünglich von Christian Alvart geplante Realverfilmung wie auch der 2024 bzw. 2025 erscheinende CF-Manga sich zumindest im Design nicht trauen, Neuland zu betreten, sondern sich an die Toei'schen Vorgaben halten...